Ist die Abstinenz noch zeitgemäß?
Eines wissen wir seit der Prohibition der 20er und 30er Jahre (1919-33; prohibere: lat. verhindern) in Amerika ganz gewiss: Staatlich oder gesellschaftlich erzwungene Abstinenz führt nicht dazu, dass Menschen keine Suchtmittel oder keinen Alkohol mehr konsumieren. Sie tauchen einfach in die Illegalität ab, insofern sie für sich aufgrund ihrer Abhängigkeit und Suchterkrankung keine Alternative sehen und sich daher auch nicht von möglichen Strafen abschrecken lassen. Der illegale Konsum entzieht sich staatlicher, medizinischer und sozialer Kontrolle. Was war das Ergebnis? Die Alkoholprohibition führte zu einem vermehrten Angebot von harten Spirituosen anstelle von Getränken mit niedrigem Alkoholgehalt wie Bier und Wein. Der war nämlich am einfachsten in jedem Hinterhof herzustellen. Die Menschen veränderten deshalb ihre Trink¬gewohnheiten aber nicht. Sie tranken deshalb einfach mehr harte Getränke mit einem wesentlich höheren Alkoholgehalt. Was war die ableitbare Folge: Es gab mehr alkoholabhängige Menschen.
Die Fragestellung „Ist Abstinent noch zeitgemäß?“ ist knifflig. Sie lädt dazu ein, schnell mit „Ja, klar!“ oder „Nein, sicher nicht!“ zu antworten. Damit eröffnen sich sofort Fronten zwischen möglichen Befürwortern und Gegnern einer Abstinenzdiskussion. „Abstinenzapostel“ schreien die einen, „Suchthaufen“ die anderen. Es findet also schnell eine Moralisierung des Themas statt. Und es findet ein Streit darüber statt, was gerade total zeitgemäß und damit brandheiß, aktuell, cool, gegenwartsnah ist und was eben nicht.